Wie kann ich im Advent dem wahren Glück einen kleinen Schritt näher kommen?
Wahres Glück scheint machbar. Wahres Glück ist alles, was wir suchen. Alles scheint immer sofort und überall verfügbar. Das ist das Lebensgefühl unserer Generation. Aber das trügt.
Diese 4 Worte beschreiben unsere Lebenswirklichkeit kurz und knapp:
- alles
- immer
- sofort
- überall
Was wir wollen, ist nur wenige Klicks entfernt. Das notwendige Kapital vorausgesetzt, können wir uns fast alles leisten. Doch das Streben nach kaufbarem und nach machbarem Glück macht uns nicht wirklich glücklich. Nicht alles zu haben, nicht alles sofort zu haben, nicht alles sofort überall haben zu können – das ist eine Herausforderung. Aber auf etwas zu warten, hat auch seinen Reiz.
Die Magie des Wartens ist in einer Welt, in der Entbehrung und Mangel Fremdwörter sind, oft nicht mehr spürbar. Die Frage lautet nicht mehr: Was brauche ich? Weil wir fast alles im Überfluss haben. Sondern die Frage lautet: Was will ich? In einer Gesellschaft, die beherrschen und optimieren will, vergessen wir oft, dass das Unverfügbare eine Voraussetzung ist, um wahres Glück zu erfahren.
Wahres Glück entsteht an der Grenze des Beherrschbaren
Hartmut Rosa, ein deutscher Soziologe, macht deutlich, dass die Lösung nicht in permanenter Verfügbarkeit besteht. Das Verfügbarmachen von Dingen ist ein Grundzug der modernen Gesellschaft. Doch die Annahme, dass wir die Welt vollständig in den „Griff“ bekommen können, erweist sich als Trugschluss. Wahres Glück entsteht an der Grenze des Beherrschbaren, wo das Unbeherrschbare und Unberechenbare ins Spiel kommt.
Unsere Wünsche können sofort Wirklichkeit werden. Doch ob der erfüllte Wunsch hält, was er verspricht, bleibt offen. Unverfügbare Faktoren spielen auch eine Rolle. Das können wir zum Beispiel an den Winterferien erkennen: Die Werbeprospekte versprechen uns ein perfektes Erlebnis. Aber ob es (genug) Schnee gibt, das wissen wir nicht.
Schnee ist unverfügbar, auch wenn er heute technisch machbar ist – dazu später mehr. Bei allem gibt es Faktoren, die wir nicht beeinflussen und nicht beherrschen können. „Wir alle wissen, dass wir viele Sachen nicht unter Kontrolle haben, aber in der Regel sind das dann eben Ärgernisse oder Grenzen“, schreibt Rosa. Grenzen wollen wir um jeden Preis überwinden. Das verursacht Stress und führt zu Krisen, ja macht uns bisweilen krank. Weil wir verlernt haben, uns zu langweilen und zu warten.
Zauber durch Berührung
In der spätmodernen Gesellschaft streben wir danach, die Welt mehr und mehr verfügbar zu machen, obwohl wir spüren, dass wir das nicht können. Denn der wahre Zauber des Glücks entsteht durch Berührung, nicht durch Kontrolle.
In den Bereichen, wo es möglich ist, muss dem „Unverfügbaren“ Raum gelassen werden, da nur so Resonanzerfahrungen möglich sind, nach denen wir uns sehnen. Resonanzerfahrungen sind Erfahrungen, in denen wir spüren, dass in uns selber etwas zum Schwingen kommt. Etwas „berührt“ uns und weckt in uns ein intensives Gefühl, dass wir mit allem verbunden sind.
Hartmut Rosa betont, dass Resonanz nicht entsteht, wenn uns alles vollständig zur Verfügung steht. Die Magie liegt im Berührt-werden, nicht im vollständigen Kontrollieren. „Der Zauber entsteht durch Berührung“, ein Leitfaden für wahres Glück? Gerade die Zeit von Advent und Weihnachten ist eine gute Zeit für solche Erfahrungen.
Warten im Advent
Der Advent ist ursprünglich eine Zeit der Erwartung. Advent ist mehr als das Zählen der Tage bis Weihnachten. Es ist ein bewusstes Eintauchen in die Unverfügbarkeit, in die Vorfreude auf das Unerwartete. Aber das Warten haben wir verlernt. Wir wollen alles sofort haben. Darum „kaufen“ wir uns Weihnachten schon im Advent. Lichterzauber und Glühwein allenthalben versetzen uns in diese Stimmung, die wir noch als Kinder kennen.
Aber eben: Dieses Erlebnis ist gekauft und erschöpft sich schnell. Nach dem Kaufrausch kommt die Depression. An Weihnachten sind viele Menschen der Weihnachten überdrüssig. Dann, wenn die eigentliche Festzeit beginnt, haben wir genug davon. Wir sind übersättigt und sehnen uns danach, dass es endlich vorbei sein möge.
Die Antwort könnte sein, dass wir – vielleicht gerade im Advent – wieder bewusst warten. Der Schnee ist ein gutes Beispiel dafür: Der Schnee, eine Manifestation des Unverfügbaren, spiegelt das Drama der modernen Welt wider, so Hartmut Rosa: „Wir können Schnee nicht herstellen, nicht erzwingen, nicht einmal sicher vorherplanen, jedenfalls nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Und mehr noch: Wir können des Schnees nicht habhaft werden, ihn uns nicht aneignen: Wenn wir ihn in die Hand nehmen, zerrinnt er uns zwischen den Fingern, wenn wir ihn ins Haus holen, fließt er davon, und wenn wir ihn in die Tiefkühltruhe packen, hört er auf, Schnee zu sein.
Vielleicht sehnen sich deshalb so viele Menschen – nicht nur Kinder – nach ihm, vor allem vor Weihnachten.“ Für viele Menschen wäre als Weisse Weihnachten so etwas wie wahres Glück.
Die Magie des Augenblicks
In der Zeit des Wartens wird der Unterschied von Warten und Erwartung spürbar. Warten ist langweilig. Das versuchen wir zu vermeiden. Wozu sollen wir warten, wenn das scheinbare Glück nur einen Klick entfernt ist.
Erwartung hingegen hat ein Ziel und eine Ausrichtung. Sie birgt Hoffnung in sich und entspringt unserer innersten Sehnsucht, die sich nicht einfach erfüllen lässt. Damit unsere innerste Sehnsucht sich erfüllen kann, müssen wir uns berühren lassen.
Erinnerst du dich an den Moment, als du als Kind zum ersten Mal die Lichter am Weihnachtsbaum gesehen hast? Dieser zauberhafte Moment, den viele Menschen auch heute noch suchen. Nicht alles zu verstehen oder zu kontrollieren, sondern die Erfahrung zu machen: „Ich bin gehalten. Es wird gut.“ – das ist, was uns im tiefsten mit wahrem Glück erfüllt.

Wahres Glück lässt sich nicht produzieren
Das Geschenk des Wartens
Vielleicht würde es uns helfen, wenn wir zulassen könnten, dass es uns nicht immer gut geht. Krisen sind Einladungen, hinzuschauen und hinzuhören. In der Krise finden wir manchmal, was uns wirklich berührt und Glücksmomente schafft. Gerade weil wir in einer Krise auch nicht alles im Griff haben können. Eine Krise ist ja gerade Ausdruck davon, dass uns die Kontrolle entglitten ist. Diese Grenzerfahrung können wir als Chance nutzen, indem wir das Warten auf die Rückkehr des Glücks aktiv nutzen und gestalten.
In einer Welt, die von Schnelligkeit und Effizienz geprägt ist, mag es paradox erscheinen, dem Warten bewusst Raum zu geben. Die Herausforderung besteht darin, das Warten nicht als Verlust von Zeit zu betrachten, sondern als eine Gelegenheit, die Unverfügbarkeit des Lebens auf uns zukommen zu lassen. Denn die wahre Erfüllung liegt nicht im Machbaren, sondern im Erleben des Unverfügbaren.
Etwas fehlt
Solche Erlebnisse können wir nicht produzieren. Das liegt in der Natur der Sache. Wenn wir, um im Bild von Hartmut Rosa zu bleiben, Schnee künstlich produzieren, was heute ja möglich ist, so nehmen wir ihm den eigentlichen Zauber. Die aktuellen Bilder in den Medien sprechen da eine deutliche Sprache: Bagger auf dem Gletscher, um zur Unzeit ein Skirennen durchführen zu können. Oder ein weißer Streifen inmitten von Grün, um auch im Frühling die Anlagen noch laufen lassen zu können. Solche Bilder machen uns bewusst, dass wir die Natur entzaubert haben, indem wir versuchen, sie zu kontrollieren und sie uns verfügbar zu machen. Das kurzfristige Glück eines Skitages oder eines Skirennens können wir so vielleicht produzieren. Aber etwas fehlt.
Das kann uns vielleicht eine spontane Wanderung durch den frisch verschneiten Wald ermöglichen. Ein Spaziergang, der nicht geplant war. Vielleicht sogar mit Laternenlicht. Eine solche Erfahrung von Stille, Licht und knirschendem Schnee kann uns öffnen und ein tiefes Gefühl der Verbundenheit herstellen. Diese Verbundenheit, da ist, was viele Menschen als wahres Glück empfinden. Gerade weil wir es nicht machen können, sondern geschehen lassen dürfen.