Vor 800 Jahren schrieb Franziskus von Assisi den Sonnengesang – ein poetisches Lob auf die Schöpfung, das bis heute Menschen weltweit inspiriert. Dieser Artikel beleuchtet die Entstehung, liturgische Bedeutung und Wirkungsgeschichte des Textes, bietet fünf meditative Betrachtungen zu seinen zentralen Themen und stellt künstlerische Umsetzungen in Musik, Kunst und Theater vor. Ein spiritueller Wegweiser für unsere Zeit.
Einleitung
Vor rund 800 Jahren, in einer Zeit des Umbruchs und der spirituellen Erneuerung, verfasste Franziskus von Assisi ein Gedicht, das bis heute Menschen weltweit berührt: den Sonnengesang (italienisch: Cantico di Frate Sole). Dieses poetische Werk ist nicht nur ein Ausdruck tiefster Gottesliebe und Schöpfungsverbundenheit, sondern auch ein Meilenstein in der Geschichte der christlichen Spiritualität und Literatur.
Der Sonnengesang ist ein Lobpreis auf die Schöpfung, in dem Franziskus die Elemente und Naturerscheinungen als seine „Brüder“ und „Schwestern“ anspricht. Er tut dies in einer Sprache, die einfach und zugleich tiefgründig ist – und damit bis heute verständlich und inspirierend bleibt. In diesem Artikel wollen wir dem Sonnengesang in seiner Tiefe nachspüren: seiner Entstehung, seiner liturgischen Bedeutung, seiner Wirkungsgeschichte und seiner spirituellen Botschaft für unsere Zeit.
1. Entstehungsgeschichte des Sonnengesangs
Der Sonnengesang entstand vermutlich im Jahr 1224, also zwei Jahre vor dem Tod von Franziskus. Die Umstände seiner Entstehung sind gut dokumentiert, unter anderem durch die Biografien von Thomas von Celano und Bonaventura sowie durch die „Legenda Perusina“. Franziskus war zu dieser Zeit schwer krank, nahezu blind und lebte in einer einfachen Hütte bei San Damiano, nahe Assisi. Trotz seines Leidenszustands verfasste er ein Lied, das von Freude, Dankbarkeit und tiefer Gottesverbundenheit durchdrungen ist.
Der Sonnengesang wurde in einem altumbrischen Dialekt geschrieben – einer frühen Form des Italienischen. Dies war ungewöhnlich, denn religiöse Texte wurden damals meist auf Latein verfasst. Franziskus wollte jedoch, dass sein Lied von einfachen Menschen verstanden und mitgesungen werden konnte. Die poetische Form ist rhythmisch und repetitiv, was auf eine mündliche Weitergabe und musikalische Aufführung hindeutet.
Der Text beginnt mit einem Lobpreis Gottes, dem „höchsten, allmächtigen, guten Herrn“. Es folgen Anrufungen der Schöpfungselemente: Sonne, Mond, Sterne, Wind, Wasser, Feuer, Erde – alle werden als Geschwister bezeichnet. Besonders bemerkenswert ist die letzte Strophe, in der Franziskus sogar den Tod als „Schwester“ lobt – ein Ausdruck tiefster spiritueller Reife und Hingabe.
2. Bedeutung für die Liturgiegeschichte
Obwohl der Sonnengesang kein offizieller Bestandteil der römischen Liturgie wurde, hat er in der christlichen Feierkultur eine bedeutende Rolle gespielt. Besonders in franziskanischen Gemeinschaften wurde er regelmäßig rezitiert oder gesungen – oft als Teil von Morgen- oder Abendgebeten. In der modernen Liturgie findet er sich in ökumenischen Gottesdiensten, Schöpfungsandachten und spirituellen Impulsen wieder.
Im Zuge der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) wurde der Sonnengesang neu entdeckt. Die Betonung der aktiven Teilnahme der Gläubigen und die Öffnung für volkssprachliche Elemente führten dazu, dass der Sonnengesang vermehrt in Gottesdiensten verwendet wurde – etwa als meditativer Text, als Lied oder als Grundlage für Predigten.
Der Sonnengesang gilt heute als einer der frühesten Texte christlicher Schöpfungsspiritualität. Er verbindet die Ehrfurcht vor der Natur mit dem Lob Gottes und stellt eine tiefe Beziehung zwischen Mensch und Kosmos her. Diese Perspektive hat auch Eingang in die Enzyklika Laudato si’ von Papst Franziskus gefunden, die ihren Titel direkt dem Sonnengesang entlehnt.
3. Rezeptionsgeschichte des Sonnengesangs
Bereits kurz nach dem Tod von Franziskus wurde der Sonnengesang in franziskanischen Kreisen verbreitet. Die Brüder sangen ihn bei Prozessionen, in Andachten und bei besonderen Anlässen. Die poetische Form und die volkssprachliche Ausdrucksweise machten ihn zu einem beliebten Text in der religiösen Volkskultur.
Der Sonnengesang gilt als eines der frühesten literarischen Werke in italienischer Sprache. Er beeinflusste nicht nur religiöse Dichtung, sondern auch weltliche Lyrik. Autoren wie Dante Alighieri und später Giovanni Pascoli griffen Motive des Sonnengesangs auf – etwa die Geschwisterlichkeit der Schöpfung oder die spirituelle Sicht auf den Tod.
Im 20. und 21. Jahrhundert wurde der Sonnengesang neu entdeckt – sowohl in der Theologie als auch in der Kunst. Die ökologische Bewegung, interreligiöse Spiritualität und die Suche nach einer ganzheitlichen Lebensweise führten dazu, dass der Text in vielen Kontexten neu interpretiert wurde. Besonders die Enzyklika Laudato si’ von Papst Franziskus (2015) hat den Sonnengesang in das Zentrum einer globalen spirituellen und ökologischen Debatte gerückt.
4. Fünf inhaltliche Schwerpunkte mit meditativen Betrachtungen
– Schöpfung als Geschwisterlichkeit: Franziskus spricht von „Bruder Sonne“, „Schwester Mond“, „Bruder Wind“ und „Schwester Wasser“. Diese Sprache ist Ausdruck einer tiefen spirituellen Haltung: Die Schöpfung ist Teil einer göttlichen Familie.
– Lobpreis in Krankheit und Leid: Der Sonnengesang entstand in einer Zeit großer körperlicher Not. Franziskus war krank, blind und litt unter Schmerzen. Dennoch lobt er Gott – nicht trotz, sondern in seinem Leid.
– Versöhnung als göttlicher Auftrag: Franziskus fügte eine Strophe über die Menschen hinzu, „die vergeben aus Liebe zu dir“. Versöhnung ist für ihn ein göttlicher Akt – ein Weg, der zur Freiheit führt.
– Tod als Schwester – spirituelle Annahme des Endes: Franziskus lobt Gott „durch unsere Schwester, den leiblichen Tod“. Er sieht den Tod nicht als Feind, sondern als Teil des göttlichen Plans.
– Demut und Dienst als Lebenshaltung: Der gesamte Sonnengesang ist durchdrungen von Demut. Franziskus stellt sich nicht über die Schöpfung, sondern unter sie. Er dient – nicht aus Zwang, sondern aus Liebe.
5. Künstlerische Verarbeitungen
– Musik: Franz Liszt komponierte 1862 das Werk Cantico del Sol di San Francesco d’Assisi. Sofia Gubaidulina schuf 1997 das Werk Sonnengesang. Peter Reulein integrierte den Sonnengesang in sein Oratorium Laudato si’.
– Bildende Kunst: Christel Fuchs schuf Aquarelle zu den Strophen des Sonnengesangs. Clemens Hillebrand gestaltete Glasfenster mit Motiven aus dem Sonnengesang.
– Darstellende Kunst: Das Oratorium Il Cantico von Luigi Molfino verbindet Musik, Schauspiel und Tanz. Szenische Spiele in franziskanischen Klöstern bringen den Sonnengesang auf die Bühne.
6. Spirituelle Relevanz heute
– Ökologische Spiritualität: Der Sonnengesang lädt dazu ein, die Schöpfung als Mitgeschöpf zu sehen – grundlegend für eine nachhaltige Lebensweise.
– Interreligiöser Dialog: Der Sonnengesang spricht eine universelle Sprache und kann Brücken zwischen Religionen bauen.
– Persönliche Spiritualität: Für viele ist der Sonnengesang ein persönliches Gebet – ein Text, der Trost spendet und zur Dankbarkeit führt.
7. Schlussbetrachtung
Der Sonnengesang ist mehr als ein Gedicht. Er ist ein spirituelles Vermächtnis, das über Jahrhunderte hinweg Menschen inspiriert hat. Franziskus von Assisi hat mit einfachen Worten eine tiefe Wahrheit ausgedrückt: Alles Leben ist miteinander verbunden. Alles Leben ist Geschenk. Und alles Leben ist Lobpreis.
In einer Welt, die oft von Trennung, Ausbeutung und Angst geprägt ist, klingt der Sonnengesang wie ein leiser, aber kraftvoller Ruf: Zurück zur Verbundenheit. Zurück zur Dankbarkeit. Zurück zu Gott.
8. Weiterführende wissenschaftliche Literatur
– Thomas von Celano: Vita Prima – Erste Lebensbeschreibung des heiligen Franziskus.
– Bonaventura: Legenda Maior – Die große Legende des heiligen Franziskus.
– Johannes B. Freyer: Der Sonnengesang des Franziskus – Eine spirituelle Auslegung. Echter Verlag, 2004.
– Rainer M. Schießler: Laudato si’ – Die Umwelt-Enzyklika von Papst Franziskus. Herder, 2015.
– Ingrid Riedel: Franziskus – Mystiker der Schöpfung. Kreuz Verlag, 2012.
– Dieter Berg (Hrsg.): Franziskus von Assisi – Leben und Werk. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011.